Freitag, 18. März 2011

Alle AKW vor dem Aus?

Der deutsche TV-Kanal ARD hat im Politmagazin «Kontraste» von Mittwoch den an sich geheimen Prüfkatalog für die Atommeiler im nördlichen Nachbarland bekannt gemacht. Brisant: Diese Prüfung dürfte vermutlich kein einziges Werk überstehen. Legt man die gleichen Kriterien für eine Prüfung in der Schweiz zugrunde (Erdbebensicherheit, Hochwasserschutz, Mehrfach-Notstrom, Schutz vor Flugzeugabsturz und Terror), dürfte wohl auch in der Schweiz kein AKW weiter betrieben werden.

Alle AKW vor dem Aus? So lautet die Frage, die sich in Deutschland ganz konkret stellt - und die mit dem gleichen Kriterienkatalog auch für die Schweiz gelten kann. Die Internen Unterlagen der Bundesregierung, die KONTRASTE exklusiv vorliegen, belegen: Allen deutschen Kernkraftwerken droht das AUS. Experten fordern neue Sicherheitsstandards, deren Umsetzung die Energiewirtschaft Milliarden kosten würde.

Die Unfallszenarien bei japanischen Kernkraftwerken seit dem 11. März 2011 geben Anlass, auch für Deutschland die Sicherheitslage neu zu bewerten. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Fukushima-Szenarien (I.), ähnlicher Schadensszenarien (II.) als auch hinsichtlich einer generellen Neubewertung von Risiken (III.). Die Durchführung der Überprüfungen muss darüber hinaus gehen, dass alte Prüfungsergebnisse lediglich nachvollzogen werden (IV.). Die geforderten Überprüfungen und Maßnahmen sind für alle Anlagen kurzfristig und als Voraussetzung für die Nutzung der zusätzlichen Strommengen aufgrund der gesetzlichen Laufzeitverlängerung nach dem (aktuellen) Stand von Wissenschaft und Technik umzusetzen.

Die nachfolgende Liste basiert auf vorläufigen Überlegungen nach dem jetzigen Erkenntnisstand. Sie wird insbesondere unter Berücksichtigung der Fortentwicklung der Erkenntnisse aus den japanischen Kernkraftwerken und den Zwischenergebnissen des Überprüfungsergebnisses gegebenenfalls weiterentwickelt werden.

I. Fukushima-Szenario – Schlussfolgerungen für deutsche KKW
1. Erdbebenauslegung und Bodendynamik
a) Die Erdbebenauslegung wird nach Stand von Wissenschaft und Technik mit aktuellen Erdbebenlasten kurzfristig neu berechnet. Nachrüstmaßnahmen werden ggf. unverzüglich umgesetzt.
b) Einwirkungen aus bodendynamischen Prozessen wie Erdfälle und Subrosion, Erdrutsche und sonstige Massenverlagerungen aller Art, und zwar als direkte Einwirkung als auch ausgelöst in Folge Erdbeben, werden in den Neuberechnung der Erdbebenauslegung mit einbezogen. Nachrüstmaßnahmen werden ggf. unverzüglich umgesetzt.
c) Insbesondere werden alle für den sicheren Betrieb bei und nach einem Erdbeben erforderlichen Komponenten aller vier Sicherheitsebenen überprüft und ggf. entsprechend ersetzt oder ertüchtigt.
2. Hochwasserauslegung
a) Die Hochwasserauslegung wird nach Stand von Wissenschaft und Technik unter Berücksichtigung des Klimawandels kurzfristig neu berechnet und ggf. Nachrüstmaßnahmen unverzüglich umgesetzt. Bei der Berechnung von Überflutungen werden auch Flutwellen (Nordsee) und größere Wogen an angrenzenden Gewässern betrachtet, die z. B. durch Erdbeben oder Stürme überlagert mit Hochwässern hervorgerufen werden.
b) Insbesondere werden alle für den sicheren Betrieb bei einem Hochwasserereignis erforderlichen Komponenten für alle vier Sicherheitsebenen überprüft und ggf. entsprechend ersetzt oder ertüchtigt
3. Weitere externe Ereignisse
a) Die Auslegung und die Betriebsvorschriften der KKW im Hinblick auf weitere externe Ereignisse werden nach Stand von Wissenschaft und Technik auch unter Berücksichtigung des Klimawandels kurzfristig überprüft (z. B. extreme Wetterbedingungen, Flugzeugabsturz, Cyberangriff, Pandemie). Nachrüstmaßnahmen werden ggf. unverzüglich umgesetzt. Dabei wird u. a. geprüft, inwieweit die Auslegungsannahmen (z. B. für Erdbeben, Hochwasser) in die Systemauslegung eingehen und ob mögliche Einwirkungen durch das Versagen anderer Systeme und Komponenten (z. B. Hilfssysteme) hinreichend berücksichtigt sind.
4. Kombinationswirkung von externen Ereignissen
Es wird überprüft, welche Kombinationen von Ereignissen (z. B. Erdbeben und großflächiger Stromnetzausfall) nach Stand von Wissenschaft und Technik bei der Auslegung zu berücksichtigen sind. Nachrüstmaßnahmen werden ggf. unverzüglich umgesetzt.
5. Konkrete Maßnahmen
a) Die Erdbebensicherheit insbesondere der Notstromversorgungsanlagen incl. aller für deren Betrieb notwendigen Hilfs- und Versorgungseinrichtungen wird nach Stand von Wissenschaft und Technik überprüft.
b) Die sicherheitstechnisch relevante Nebenkühlwasserversorgung ist zudem im Hinblick auf Ereignisse mit „common cause Potential“ wie Fremdstoffe (Heu, Muscheln, Quallen etc.) zu überprüfen und ggf. zu ertüchtigen.
c) Zur Kenntnis des Anlagenzustandes muss die Messung von systemwichtigen Betriebs- Störfall und Unfalldaten von der Warte und der Notsteuerstelle aus sichergestellt sein. Zudem muss sichergestellt sein, dass diese Daten kontinuierlich den Aufsichtsbehörden übermittelt werden (Überprüfung der Notfallplanungen). Hierzu sind redundante Messungen erforderlich die über örtlich getrennte Wege geführt werden.
d) Die Kern- und Störfallinstrumentierung ist nach Stand von Wissenschaft und Technik zu überprüfen, um auch im Auslegungsüberschreitenden Bereich aussagekräftige Werte sicherzustellen.
e) Eine Notsteuerstelle für jeden Reaktorblock ist vorzusehen, entsprechend zu verbunkern und räumlich so anzuordnen, dass sie auch bei größeren Freisetzungen auf dem Anlagengelände durchgängig besetzt werden kann.
f) Die Autarkie der Notstromversorgung ist für 72 Stunden sicherzustellen.
g) Die Notfallmaßnahme zum Fluten des Reaktordruckbehälters (RDB -Außenkühlung) ist nach Stand von Wissenschaft und Technik zu überprüfen. Nachrüstmaßnahmen werden ggf. unverzüglich umgesetzt.
h) Rückfördermaßnahmen aus dem Reaktorgebäude (SWR) oder dem Ringraum (DWR) sind für Lecks aus dem Sicherheitsbehälter vorzusehen.
i) Es sind Maßnahmen zu ergreifen, die die Auswirkungen von Wasserstoffexplosionen bei einem Stör- oder Unfall soweit mindern, dass die Störfall- und Notfallsysteme funktionsfähig bleiben.
j) Bei SWR: Verstärkung der Einspeisemöglichkeiten in einen unter Druck (>10bar) stehenden RDB zusätzlich zu TJ und TM, um weniger von einer Druckentlastung und Einsatz der ND-Systeme abhängig zu sein.
k) Bei DWR: Verstärkung der Einspeisemöglichkeiten in den Primärkreis durch eine dampfgetriebene Pumpe wie bei SWR vorhanden, die nur von Steuerstrom, nicht aber Leistungsstrom abhängig ist.

II. Ähnliche Schadensszenarien
a) Es wird überprüft, ob der Ausfall der Notkühlung bzw. der Notstromversorgung bei einem Flugzeugabsturz (zufällig, terroristisch) verhindert werden kann.
b) Die Robustheit sowie die Dauer der Wirksamkeit der Notkühlung und der Notstromversorgung (Notstromdiesel, Batterien) werden im Hinblick auf längerfristigen Ausfall der Infrastruktur (z. B. externe Stromversorgung) überprüft.
c) Sämtliche Notstromdiesel sind zu verbunkern.
d) Die Rohrleitungen zur Kühlung der Sicherheitssysteme sind in zugänglichen verbunkerten Rohrleitungskanälen zu führen.
e) Das Not- und Nachkühlsystem wird durchgängig auf vier Stränge mit je 100% Nachkühlkapazität aufgerüstet. Die vier Stränge weisen eine 2+2 Diversität auf. Alle Stränge sind durchgängig gegen Einwirkungen von Außen zu schützen und ggf. räumlich getrennt aufgebaut werden.
f) Jede der Anlagen soll zusätzlich mit einem dampfgetriebenen, batteriegepufferten Hochdruck-Einspeisesystem in Anlehnung an entsprechende Systeme bei den deutschen Siedewasserreaktoren der Baulinie 69 und dem Druckwasserreaktor Biblis A nachgerüstet werden. Diese Systeme sind gegen den Station Black Out (totaler Stromausfall) ausgelegt.
g) Es werden zur Kühlung des BE-Lagerbeckens, neben den zwei hierzu herangezogenen Not- und Nachkühlsträngen, zwei weitere Kühlstränge mit 2x100% Kapazität gefordert, von denen wenigsten ein Strang durchgängig vollständig verbunkert und hochwassergeschützt ist.
h) Die Notstromsysteme, die die Notkühlsysteme mit Strom versorgen, sollen durchgängig auf 4x 100% Notstromkapazität aufgerüstet werden. Die vier Stränge sind diversitär aufzubauen. Je zwei 100% Stränge paarweise in bauartverschiedener Konstruktion der aktiven Notstromkomponenten.
i) Mobile Notstromaggregate sowie die Installation von festen Einspeisepunkten für diese sind vorzunehmen, um sie ohne Zeitverzug anschließen und sicherheitstechnisch wichtige Verbraucher damit versorgen zu können.
j) In allen Anlagen sollen durchgängig zusätzliche Notstandssysteme nachgerüstet werden. Diese sind in den Vor-Konvoi- und Konvoi-Anlagen Stand der Technik. Die nachzurüstenden Notstandssysteme sollen zu den nachzurüstenden Not- und Nachkühlsytemen und den Notstromsystemen konsistent sein. D. h. statt nur 4x50% Kapazität wie bei Konvoi-Anlagen sollen auch hier diversitäre Systeme 4x100% eingerichtet werden, je 2x100% + 2x100% mit bauartverschiedenen aktiven Komponenten. Die Notstandssysteme sind zu verbunkern.
k) In Siedewasserreaktoren ist das Kühlmittelinventar zu vergrößern durch vergrößerte Kühlmittellagerbehälter, die störfallfest auszuführen sind. In Druckwasserreaktoren sollen die sogenannten Flutbehälter in ihrem Fassungsvermögen vergrößert werden.
l) Bei Druckwasserreaktoren soll zur Gewährleistung der dritten Barriere bei sekundärseitigem Abfahren durch Abblasen über Dach, eine sekundärseitige Kondensationskammer nachgerüstet werden. Diese Kondensationskammer soll ein Wasserinventar haben, das als Vorlage zum Abblasen – wie bei Siedewasserreaktoren – dient. Dieses Wasserinventar soll zudem wieder in die Dampferzeuger eingespeist werden können. Für diese DWR-Sekundärkondensationskammer ist ein Wärmeanfuhrsystem zu installieren.
m) Das BE-Lagerbecken ist innerhalb des Sicherheitsbehälters vorzusehen oder mit einer dem Sicherheitsbehälter äquivalenten Barriere gegenüber Freisetzungen zu versehen.
n) Räumlich getrennte, erdbeben- und überflutungsgesicherte verbunkerte Brunnen mit Borlagern, mobilen Notstromgeneratoren und Pumpen vor Ort sind vorzusehen.

III. generellen Neubewertung von Risiken
a) Sofortige Inkraftsetzung des neuen kerntechnischen Regelwerks (Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke).
b) Das Einzelfehlerkonzept ist zu überprüfen, u. U. ist das gleichzeitige Auftreten von mehreren Einzelfehlern zu unterstellen.
c) Die Beherrschung der Auslegungsstörfälle, die nach dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik zu unterstellen sind (Modul 3 Sicherheitskriterien), muss nachgewiesen werden.
d) Ein wirksames IT-Security-konzept wird in allen deutschen Anlagen kurzfristig umgesetzt. Dadurch wird gewährleistet, dass der sichere Betrieb der Anlagen nicht durch IT-Angriffe beeinträchtigt werden kann.
e) Digitale Systeme im Reaktorschutz werden nur eingeführt, wenn diese mit gleicher Sicherheit vor Manipulationen geschützt werden können, wie die derzeit verwendete Analogtechnik.
f) Auswirkungen auf die Sicherheit von KKW aufgrund von Stromnetzausfällen z.B. bei simultanen IT-Angriffen auf Einrichtungen der Stromversorgungsinfrastruktur müssen ausgeschlossen werden.
g) Es wird geprüft, ob durch simultane IT-Angriffe auf mehrere KKW gleichzeitige Schnellabschaltungen ausgelöst werden können.
h) Kurzfristige Umsetzung von Sicherheitsverbesserungen auf der Basis der „Nachrüstungsliste“ des BMU unter Verzicht auf die Konditionierung von Nachrüstforderungen durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen (P2-Punkte) als Voraussetzung für die Nutzung der zusätzlichen Strommengen aus der Laufzeitverlängerung.
i) Die Qualität von Einrichtungen und Maßnahmen zur Beherrschung von Ereignissen, die bisher als seltene Ereignisse der Sicherheitsebene 4a zugeordnet wurden, soll an das Niveau der Sicherheitsebene 3 herangeführt werden.
j) Systematische Überprüfung der Einrichtungen und Maßnahmen der Sicherheitsebene 4 b und c in Hinblick auf Qualität und Wirksamkeit, entsprechend dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik.
k) Die Auslegung für Reaktordruckbehälter und deren Einbauten bei Siedewasserreaktoren der Baulinie 69 sind mit Verfahren nach Stand von W&T für alle Schwachstellen hinsichtlich Ermüdung und Versprödung mit allen möglichen Belastungsfällen (für aktuelle Kernbeladungen, Anreicherungen, Abbrandzuständen, Schwingungen) nachzuvollziehen. Dabei sind die eingeschränkten Prüfmöglichkeiten hinsichtlich Auffindbarkeit von Rissen sowie mögliche Korrosion zu berücksichtigen.
l) Für alle Behälter und Rohrleitungen der Druckführenden Umschließung ist der Bruchausschluss für die nach dem heutigen Stand von Wissenschaft und Technik möglichen Belastungsfälle (Flugzeugabsturz, Erdbeben, Störfälle, ATWS) für die vorgesehene Betriebszeit zu gewährleisten. Der Zustand (Ermüdung, Verlagerungen, Schwingungen, Dehnungen) sind kontinuierlich zu ermitteln und auszuwerten.
m) Für alle Behälter und Rohrleitungen sind die Nachweise für die Verankerungen (z.B. Dübel) der sicherheitstechnisch wichtigen Systeme nach Stand von W&T und allen Belastungen vorzulegen.
n) Freischaltungen der Sicherheitskühlsysteme während des Leistungsbetriebes zur vorbeugenden Instandhaltung sind unzulässig. Sie sollen stattdessen in der Revision erfolgen.

IV. Überprüfungsverfahren
a) Für jede Anlage wird ein Gutachterteam gebildet, dem nur Mitarbeiter von Sachverständigenorganisationen angehören, die nicht in der jeweiligen Anlage als Hauptgutachter tätig waren, also: andere TÜV, GRS, Öko-Institut, Physikerbüro, ESN u. a.
b) Die Bundesaufsicht erhält ohne Einschränkung alle gewünschten Unterlagen und zieht die RSK zu übergeordneten Fragen hinzu.
c) Die geforderten Maßnahmen sind für alle Anlagen kurzfristig und als Voraussetzung für die Nutzung der zusätzlichen Strommengen aus der Laufzeitverlängerung umzusetzen.

Das Dokument kann unter http://tinyurl.com/6bp7j8w heruntergeladen werden. Zusätzlich ist es auch auf der KONTRASTE-Seite bei Facebook einsehbar.

Quelle: ARD / Kontraste vom 17.3.11

^^^

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen